carIT 1 2012 Seite 64

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64 Essay Mia Ein Blick über den Tellerrand lohnt immer Im Falle Mia geht er besonders weit einmal quer durch Frankreich bis tief in die Charente Das Örtchen Cerizay liegt im Nirgendwo zwi schen Nantes und Bordeaux 100 Kilometer landeinwärts vom Atlantik Ein Hotel eine Bäckerei ein Tabakgeschäft Und eine riesige Autofabrik Heuliez der traditionsreiche Autobauer fertigte hier acht Jahrzehnte lang Sonderfahrzeuge Kombis von Citroën stammten von hier Krankenwagen Cabrios und Rennwagen ebenso Aber eben auch Elektroautos Peugeot 106 und Citroën Saxo électrique waren die zarten Anfänge dieser Technik aus dem PSA Konzern entstanden in Cerizay Trotz oder gerade aufgrund solcher Innovationen ging Heuliez finan ziell die Luft aus Das Ende war der Anfang von Mia Der saarländische Pharmaunternehmer Edwin Kohl suchte vor gut zwei Jahren Elektroautos für seine Flotte fand am Markt aber nichts Passendes Er beschloss sie selbst bauen zu lassen und übernahm die Sahnestücke des insolventen Herstellers Seitdem wird ausgemistet und renoviert was das Zeug hält Ein neuer Verkehrskreisel regelt die Zufahrt Graffiti Künstler ha ben die Fabrikmauern bemalt das Werkstor erstrahlt in neuem Glanz Freiflächen und Parkplätze sind frisch asphaltiert Ex Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal stammt aus der Ge gend es ist ihr Wahlkreis und die Wirtschaftsregion ist am Un ternehmen beteiligt Nicht weniger vorzeigbar als die äußeren Umstände sind die Macher hinter dem Projekt das längst kein Projekt mehr ist Strategie und Designchef ist Murat Günak hierzulande bekannt als ehemaliger Designleiter in Diensten von Mercedes und VW Ein Blick in seine Abteilung lässt erah nen warum hier manches so anders erscheint als bei den eta blierten Autobauern dieser Welt Hier wurde ausschließlich ein Elektroauto entwickelt kein Derivat konventioneller Modelle Wir haben mit einem weißen Blatt Papier angefangen und uns immer wieder die gleiche Frage gestellt Was braucht ein Kunde wirklich um in der Stadt mobil zu sein sagt Günak Ihm zur Seite steht unter anderem David Wilkie schottischer Desi gner mit großen Erfolgen in italienischen Studios Seit kurzem bietet Mia auch Studenten der Design Hochschule Pforzheim die Möglichkeit eines Praxissemesters an Die Leute arbeiten an Realmodellen und virtuell am Bildschirm Eine gerahmte Glas wand trennt das Studio von einer drehbaren Bühne auf der ein Auto kreist wie ein Model auf dem Laufsteg Die Mia wird das Auto genannt Nicht der Mia Es klingt als sprächen Väter von ihren Töchtern Wie also wird sie gebaut die Mia Blitzsauber ist es in der neuen Produktionshalle der Boden spiegelt fast In Zehnmeterabständen fahren die in Monocoque Bauweise gefertigten Stahlchassis durch einen Tunnel des alten Heuliez Presswerks auf einem Förderband hierher Anschließend durch laufen sie fest zugewiesene Gruppenarbeitsstationen mit einer Teilezufuhr im Kanbansystem Das heißt jede Arbeitsgruppe bedient sich aus eigenen Materialvorräten am Einbauort Die Körbe und Kisten selbst werden nach vorgegebenen Rhythmen immer wieder aufgefüllt Die Fertigungstiefe ist dadurch er wartungsgemäß flach Die Teile eines Elektroautos baut man nicht selbst sondern fügt sie zusammen Die Sitze kommen aus Rumänien die Bremstechnik aus Deutschland die etwa hun dert Kilo schweren Batterien aus England und Frankreich Die Liste der Zulieferer ist lang Am Schluss steht ein Produkt das genauso europäischen Si cherheits oder Garantiebestimmungen entsprechen muss wie jedes andere Auto auch Die Hochzeit also die Zusammenfüh rung von Chassis Elektroantrieb und Karosserie ist eine kleb rige Angelegenheit Nähte werden ionisiert anschließend ver klebt die Karosserieteile nur an wenigen Stellen verschraubt Leichtbauweise in Reinkultur Einer der wenigen Roboter am Band presst zuvor die Scheiben in die dafür vorgesehenen Aus sparungen der Karosserieteile Ansonsten überwiegt Handar beit Jeder Arbeitsschritt sitzt es wirkt wie Routine Richard Deslandes Frankobrite mittleren Alters gesellt sich dazu Er ist zuständig für den Vertrieb der Autos in Großbritannien und möchte geduzt werden Wie es denn in Deutschland so liefe mit der Elektromobilität will er nicht ohne Ironie wissen In Eng land jedenfalls fände man das Thema sehr sexy sagt Richard Mit britischem Humor berichtet er von den Verkehrs und Luft zuständen in London Autos wie die Mia könnten daran etwas ändern meint er und schreitet stolz voran in die Halle der End kontrolle wo sich Auto an Auto reiht Drei Versionen gibt es den Dreisitzer die viersitzige Langversion L und den Klein transporter U Das Ganze in exakt drei Farben Carbon Weiß und Alu Das Leben kann so einfach sein Jedes fertige Auto muss über den Bremsenprüfstand auf die Rüttelbahn und am Schluss in eine Nasszelle zur Dichtheits prüfung Ob sie hier generell noch ganz dicht sind die Frage scheint legitim 2500 Mia haben sie bis Ende letzten Jahres ge baut Wer um alles in der Welt soll die kaufen Die sind bereits verkauft meint Richard trocken und zählt Beispiele auf Allein die Stadt La Rochelle hat gerade erst 200 Stück für ihren Fuhr park geordert Anfragen kämen mittlerweile aus Ländern wie Kanada oder Israel Richard zeigt auf einen Autotransporter mit deutschem Kennzeichen auf dem Freigelände Stück für Stück verfrachtet der Fahrer die Autos auf seinen Auflieger Zehn Mia passen auf einen Lkw Wer es schicker will kann sich sein Elek troauto auch in einer hübschen Transparentbox liefern lassen Logistisch konzipiert ist der Behälter schon mal für Straßen und Bahntransporte gleichermaßen Auch damit müsse man sich jetzt beschäftigen sagt Richard Schließlich werde man künftig 12 000 Autos pro Jahr bauen meint er beim Abschied Die lange Heimreise macht nachdenklich Zehn Autostunden etwa trennen Cerizay von Deutschland dem selbsternannten Leitmarkt für Elektromobilität Doch in Sachen Elektromobili tät sind es womöglich Welten Autor Alex Mannschatz 01 2012


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